HMT Leipzig

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Saturday, 26 November 2022 9:30 AM

Kultursalon 2022: zurück zur Natur 2.0 – Musik im Anthropozän

HMT, Grassistraße 8, Probesaal, Raum 304

„Musikalischer Kultursalon“ des Zentrums für Gegenwartsmusik (ZfGM) der HMT Leipzig

Leitung: Prof. Dr. Constanze Rora, Prof. Dr. Gesine Schröder, Prof. Dr. phil. habil. Martina Sichardt

Der diesjährige Kultursalon befasst sich mit Bezugnahmen musikalischer Kompositionen auf die Klimakrise. Musikalische Positionierungen finden sich in Kompositionen, die Klänge aus der Natur als musikalisches Material einbeziehen oder anhand von Nachahmung und Transformation unser Verhältnis zur Natur reflektieren. Neben Vorträgen wird auch ein Workshop für Studierende aller Fachrichtungen angeboten, der Gelegenheit gibt, mit elektroakustischen Möglichkeiten in diesem  Bereich zu experimentieren.  

Programm:

* 9:30 Uhr – 10:15 Uhr
Gesine Schröder (HMT Leipzig, mdw Wien)
Naturtöne sind grausig. Georg Friedrich Haas’ Klänge von Schneefeldern, Schlachtfeldern und aus Wiener Nachtlokalen
 
* 10:15 Uhr – 11:00 Uhr
Katarzyna Bartos (Academia Muzyczna Wrocław)
Grażyna Pstrokońska-Nawratil's Ecomusic
 
* 11:15 Uhr –12:00 Uhr
Ulrich Mosch (Université de Genève)
Natur und Musik - Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung anhand kreativer Positionen aus jüngster Zeit
 
* 12:00 Uhr – 12:45 Uhr
Ben Leo Meerwein/ Eric Busch (Leipzig)
Bericht über den Workshop Augmenting Reality – Vom Naturklang zum Phänomen

- Pause -
 
* 14:30 Uhr – 15:15 Uhr
Fabien Lévy (HMT Leipzig)
Die Künstler:in zwischen Schöpfung und Zerstörung: das Hindewhu-Ideal
 
* 15:15 Uhr – 16:20 Uhr
Alexander Rehding (Harvard University, Cambridge MA.)'
Wie kann Musik zum Klimaschutz beitragen?

* 16:30 Uhr – 17:30 Uhr
Podiumsdiskussion mit der HMT Klima-AG

Zu den Vorträgen:

 

Gesine Schröder:  Naturtöne sind grausig. Georg Friedrich Haas’ Klänge von Schneefeldern, Schlachtfeldern und aus Wiener Nachtlokalen

 

Immer wieder hat Georg Friedrich Haas komplette Kompositionen, Fragmente oder typische Klangmaterialien anderer Komponisten umgearbeitet, übermalt und fortgeschrieben, darunter solche von Josquin Desprez, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Aleksandr Skrjabin, Giacinto Scelsi und mehrfach von Wolfgang Amadeus Mozart. Eigene Stücke schrieb Haas indes nur selten um. Zu den wenigen Stücken, von denen mehr als eine Fassung existiert, zählt die Kantate the last minutes of inhumanity (2018). Für die Zweitfassung aus dem Folgejahr vervielfältigte Haas ihre Klangereignisse – wie bei Reduplikationen in Sprache und Biologie.

 

 

Katarzyna Bartos: Grażyna Pstrokońska-Nawratil's Ecomusic

 

In ihren Texten u.a. über das eigene Werk spricht die polnische Komponistin Grażyna Pstrokońska-Nawratil (* 1947) oft von der Verbindung zwischen Mensch und Natur. Sie betont, dass wir Teil der Umwelt sind und vice versa; sowohl belebte als auch unbelebte Elemente der Natur sind unsere Brüder oder Schwestern, wir gehören alle einer kosmischen Familie an. In ihrem 2005 veröffentlichten Artikel „Ekomuzyka“ [Ökomusik] erläuterte sie ihr Verständnis des titelgebenden Begriffs. Die Komponistin versteht darunter eine menschenfreundliche und von der Natur inspirierte Klangkunst. Der Neologismus enthält die Partikel „Öko“, das für sie Heimat, Umwelt, freundliche Umgebung umfasst. Pstrokońska-Nawratil betrachtet Ökomusik als einen Trend, der sich nicht erst zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entwickelt hat, sondern seit den Anfängen der Musikgeschichte präsent ist. Sie weist auf jene Naturphänomene hin, von denen Ökomusik vor allem inspiriert ist, namentlich Vögel, Wasser und der Kosmos. Die Ideen der Komponistin zur Ökomusik sind jedoch nicht wissenschaftlicher Natur, sondern eher ihre Interpretation von musikalischen Werken aus Hunderten von Jahren. In meiner Präsentation werde ich erklären, was die Hauptideen von Grażyna Pstrokońska-Nawratils Schriften über Ökomusik sind und auf welche Weise sie in ihren Werken präsent sind.

 

 

Ulrich Mosch: Natur und Musik – Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung anhand kreativer Positionen aus jüngster Zeit

 

Spätestens die Klimakrise hat klar gemacht, dass die Entgegensetzung von Kultur und Natur, im Allgemeinen jedenfalls, nicht zu halten ist. Der Mensch, und damit indirekt die Kultur, ist Teil der Natur und, wie alles auf der Welt, ihren Regelkreisen unterworfen. Welche Konsequenzen aber aus dieser Erkenntnis für die Musik zu ziehen sind, ist weniger klar. Der Vortrag wird sich anhand einer Reihe kreativer Positionen, für die Künstler.innen wie Carola Bauckholt, Enno Poppe, Toshio Hosokawa, Matthew Herbert oder Daniel Ott stehen, mit einem ganzen Spektrum unterschiedlichster Bezugnahmen auf »Natur« befassen. Wie sich zeigen lässt, geraten ästhetisches Konzept und Realisierungsbedingungen (im weitesten Sinne) in ein Spannungsverhältnis, das wohl unauflösbar ist, und die Frage aufwirft, was uns Kultur wert ist.

 

 

Fabien Lévy: Die Künstler:in zwischen Schöpfung und Zerstörung: das Hindewhu-Ideal

 

Wir kennen die Ursachen der Klimakrise wie auch die unvermeidliche Lösung: weniger und besser produzieren und konsumieren. Dieser Vortrag ist ein Plädoyer für eine neue Definition der materiellen und immateriellen Werte, die in allen Bereichen sowohl berücksichtigt, was produziert wird, als auch was zerstört wird – unabhängig davon, ob dies die Menschen, die Welt der Lebewesen oder Gaia als Ganzes betrifft. Was wären dann die praktischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Folgen dieser neuen "Buchhaltung" der Werte für die Kunst? Wir schließen mit dem, was wir nun ein "Hindewhu-Ideal" der Musik nennen.

 

 

Alexander Rehding: Wie kann Musik zum Klimaschutz beitragen?

 

Die “Ecomusicology” lässt von sich hören. Zwar mangelt es nicht an interessanten und vielversprechenden Ansätzen, die Musikgeschichte unter umweltpolitischen Gesichtspunkten neu ausleuchten, aber die zentrale Fragestellung danach, wie denn die Musikwissenschaft einen aktiven Beitrag zum Umweltschutz leisten könnte, bleibt allzu häufig außen vor. Sicher ist die Musikwissenschaft keine Klimatologie und soll dies auch nicht werden.

Aber die Musik hat mehr zu einem Gesinnungswandel beizutragen, als ihr deutlich ist. Als Zeitkunst kann sie helfen, den gordischen Knoten der “doppelten Temporalität” zu durchschlagen, die unser Handeln bestimmt. Denn im Klimawandel wird die klassische Kausalität von Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt: Mein Handeln als einzelner hat keinen messbaren Effekt auf das Klima; erst in der Masse und Jahre später zeichnen sich die Folgen unseres kollektiven Handelns ab. Anders ausgedrückt erfordert der Klimaschutz einerseits sofortige Aktion, die aber andererseits erst Jahrzehnte später spürbar wird. Der Vortrag zeigt in verschiedenen künstlerischen Ansätzen, wie diese Dichotomie zwischen dem jetzigen Augenblick und der unbestimmten Zukunft musikalisch geschlossen werden kann.