
Dramaturgie
Im Mai 2025
ERINNERUNGEN AN CARL HEGEMANN
Anfang
Es war 2006 eine Dramaturgie-Professur neu zu besetzen an unserer Hochschule. Wir wollten das theaterpraktische Profil des Studienganges Dramaturgie schärfen und suchten deshalb nach einem Dramaturgen oder einer Dramaturgin, der oder die für ein Theater arbeitete, das uns gefiel, und dessen oder deren Rolle im Theater der Gegenwart unbezweifelbar war. Wir, das waren damals Barbara Büscher und ich. Carl Hegemann hatte sich an der Volksbühne einen Namen gemacht, er war gerade von ihr weggegangen und er war frei genug, wir auch, der Coup gelang und Carl Hegemann kam nach Leipzig.
Selbstverwaltung, Alltag und Ausnahme
Er blieb 8 Jahre, bis zu seiner Pensionierung. Langweilig waren diese Jahre nie, nur selten waren sie alltäglich und manchmal war es kaum zum Aushalten. Carl zu dem zu bewegen, was im Hochschulalltag Selbstverwaltung hieß, war so gut wie unmöglich. Einmal gelang es doch. Wir saßen und brüteten über der Struktur des neu einzurichtenden Masterstudienganges Dramaturgie. Als wir fast fertig waren mit der komplexen Konstruktion, da kam Carl die Idee, dass es möglich sein müsse, dass die Studierenden für ihren Abschluss wählen können - zwischen einer wissenschaftlichen Masterarbeit und einem künstlerischen Projekt. Carl vertrat das, wie alles, was er vertrat, mit Vehemenz und wir haben unsere ordentliche Konstruktion wieder zerlegt und haben von vorn angefangen, Carl musste da dann schon zum Zug. Das künstlerische Masterprojekt gibt es bis heute.
Unterwegs und dabei
In dieser Zeit teilte Carl auch bald seine Stelle (mit Sandra Umathum, zum Schluss mit Hans-Thies Lehmann) und war nur noch zur Hälfte in Leipzig, denn er wollte gleichzeitig mit Christoph Schlingensief weiterarbeiten und später auch als Dramaturg in Hamburg. Das wollten wir eigentlich auch, wir wollten ja einen, der im gegenwärtigen Theater arbeitet. Er war dann eben ab und zu nicht dabei, wenns um die alltäglichen Hochschuldinge ging.
Die Verführbarkeit des Philosophen
In einigen Semestern habe ich (P.S.) mit Carl gemeinsam das Seminar Aufführungs- und Inszenierungsanalyse gemacht, stets zum Vergnügen der Studierenden, nehme ich an. Im schnell hitzigen Disput mit ihm sind selbst mir da Dinge über die Lippen gekommen. Carl konnte in schwindelerregender Geschwindigkeit das eine Ding mit dem nächsten verknüpfen, eins wurde im Handumdrehen zum anderen, am Ende war alles eins und ich kam mit meinen Differenzen nicht hinterher. Aus den großen Fenstern unseres Seminarraums schauten wir direkt auf das Gebäude des Leipziger Schauspiels gegenüber, zehn Meter Luftlinie von hier nach dort. Sophie Rois spielte dort gerade Medea. Ich hatte die halbe Theatergeschichte und vor allem Brecht aufgefahren, um deutlich zu machen, dass eine Schauspielerin eine Schauspielerin und eben nicht Medea i s t. Ich sehe heute noch seinen leicht gesenkten Kopf am Schluss, sein Blick leicht von unten, seine sich bewegenden Lippen. Im Seminar eine Woche später saß Sophie Rois, Carl hatte sie herübergeholt. Und Sophie Rois w a r Medea.
Carls Kontakte, Verbindungen und Offerten an die Studierenden
Carl kannte alle und viele davon konnten wir zu Lehraufträgen nach Leipzig holen: Für stage design Anna Viebrock, Bert Neumann, Katrin Brack, fürs Schreiben Robin Detje, für Kulturmanagement Kerstin Hehmeyer, es gab Vorträge von Katharina Wagner, u.a., erzählt hat er auch von seinen Gesprächen mit Boris Groys, Navid Kermani, Christoph Menke…
Diese Verbindungen waren auch Angebote, zusammenzudenken, was sich in ihnen zeigte; Dramaturgie nicht zu eng allein ans Theater zu binden, sondern die Fragen (an die Gesellschaft, an die Geschichte, an die Welt) groß zu stellen. Gelegentlich hatte die Größe etwas Schwindelerregendes, aber auf jeden Fall hat er den Studierenden verlockende, interessante und vielfältige Perspektiven eröffnende Denkangebote gemacht.
Dramaturgie ist Vieles, aber kein engstirniges Kleben am Theater. So erschien uns Carl in der HMT-Zeit.
Und weiter
Dass wir ihn vergessen, kommt nicht in Frage. Und vielleicht geht es ja den ein oder der anderen Studierenden, die von ihm lernen konnten, genauso.
Wir würden uns sehr freuen und möchten Euch bitten, diese Zeilen zu ergänzen und fortzuschreiben, an das Büro der Dramaturgie (dramaturgie@hmt-leipzig.de) zu schicken. Die Erinnerungen werden dann laufend ergänzt werden, versprochen.
Petra Stuber & Barbara Büscher
Carl.
Wir hatten wohl gerade ein oder maximal zwei Semester unseres (damals noch Diplom-) Studiums absolviert, oder vielmehr, waren gerade so richtig in Leipzig angekommen, hatten als Klasse zusammengefunden und verstanden, wie „studieren“ funktioniert - da kam Carl an die Hochschule wie ein Rockstar, der mal probiert, sesshaft zu werden. Carl, mit seinen grauen wilden Locken, seinen müden aber sprühenden Augen und dem verschmitzten Lächeln, meist in Kapuzenpulli und Jackett, oft zu spät und immer auf dem Sprung, noch schnell ein Trinkpäckchen Kakao aus der Schulkantine als Frühstücksersatz geholt, und offenbarte uns mit dieser unverwechselbaren Stimme, die von langen Nächten in Kantinen erzählte: „Tschuldigung, da muss ich rangehen, das ist Tom Tykwer“. Und dann packte er Goffmans „Rahmenanalyse“ auf den Tisch und Harold Garfinkels „Studien zur Ethnomethodologie“. Erst wurde uns schwindelig von all diesen Gedankenspielen und Experimenten und wir fühlten uns wie die Ehrenmitglieder eines Geheimclubs, einer Art Freimaurerloge für Theaterkinder, die nun endlich, endlich eingeweiht wurden ins Mysterium, wie der Hase lief – der tote Hase natürlich! Wie der tote Hase lief! Angefüllt mit Wissen, gerade mal halbverdaut, getragen von Carls überbordender Begeisterung für uns Grünlinge tobten wird durch die Hochschule wie junge Halbgöttinnen und Halbgötter, bereit, alles performativ zu begreifen und vor allem: unsere Lebenswelt performativ mitzugestalten. Als Carl einmal wieder zu spät kam (Zug aus Berlin…), hatten wir alle Kakaopäckchen aus der Kantine aufgekauft und grinsten ihn 15fach schlürfend an, als er das Klassenzimmer betrat. Er hat ein paar Minuten gebraucht und dann laut gelacht. Kurze Zeit später durften wir dank seiner Connections einen Performance-Abend am Staatssschauspiel Dresden gestalten, inspiriert von seinen praktischen Analysen Slavoj Žižeks und der Sheryl Crow Zeile „Lie to me, I promise, I´ll believe“.
Wir waren mit Carl in Wien und haben Schlingensiefs fünfstündiges Gesamtkunstwerk „Mea Culpa“ im Burgtheater miterlebt. Inklusive Carls Erläuterungen zu Schlingensiefs vorzeitigen Abgangs am zweiten Abend – „Er ist allergisch gegen Lügen!“. Er brachte uns nach Bayreuth, zur Generalprobe des „Parsifal“. Wir waren mit ihm und seiner Tochter Helene in Brüssel beim „Kunsten Festival des artes“, haben Kirschbier getrunken und nach dem roten Faden gesucht. Ich kann mich an eine Nacht erinnern, da ging es darum, meine Praktikumsmappe zu besprechen, und Carl hatte Zeit bis zum ersten Zug am Morgen nach Berlin und wahrscheinlich kein Hotelzimmer, so trafen wir uns am Hauptbahnhof, begannen unser Gespräch im Barfußgässchen und landeten nach Zapfenstreich schließlich im Burger King, bei Chilli-CheeseBalls und Fritten. Worüber wir redeten? Über´s Theater natürlich. Über Helenes erstes Drehbuch vermutlich. Und vielleicht auch über Hölderlin.
Vor einem Jahr fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie viel Einfluss Carl tatsächlich auf mein Werden und mein Sein hatte. Ich kam gerade in Delitzsch am Bahnhof an, auf dem Weg zum Dramaturgie-Unterricht meiner Schauspiel-Schüler und Schülerinnen. Wir würden über Goffmann reden. Ich war mal wieder ein bisschen spät dran, mit Club Mate im Rucksack, T-Shirt und Jackett und ich würde zu Beginn des Unterrichts sagen müssen: “Sorry, mein Handy bleibt heute laut, falls meine Tochter anruft…“
Cynthia Friedrichs
„Drum so wandle nur wehrlos/ Fort durchs Leben und fürchte nichts“,
sagte Carl, Hölderlin zitierend und nippte an seinem Tetrapak mit Kakao aus der Mensa.
Da saßen wir wieder, nicht wirklich wissend, was der Plan für diese Seminareinheit war. Carl schmunzelte; es gehörte zu den gewohnten Zeremonien, erst mal zu sortieren, wann wer was eigentlich vorbereiten sollte. War das geklärt, ging das Abenteuer los: eine Reise durch die Wirklichkeit, die Realitäten im Theater, das Theaterspiel als Schönheit des Scheiterns, als Affront zur Wirklichkeit, das Herz der Stadt, in welchem die Lüge die Wahrheit ist und einem schwindelig wird, wenn man aus dem Schlaf aufwacht, und der Porsche aus dem Traum wirklich plötzlich der eigene ist (womit Kleist im Kern schon veranschaulicht war).
Carls Euphorie im Sprechen, seine Dringlichkeit, seine Fähigkeit, leicht nuschelnd immer wieder einen Kosmos an Ideen auszubreiten und anzustecken, kaperte unser Seminar und uns und die Wellen begannen zu tosen (monologische Wellen eines dialogischen Denkens). Unvermittelt kam er zum nächsten Termin und kündigte ein Projekt an – mit Nikolas Stemann 3 Tage im Theater einsperren und auf Feldbetten schlafen! Er war ein rauschender Motor, uns anzustiften, dass das Theater gebraucht wird, solange es bloß nie museal wird, solange es lebt, Grenzen überschreitet, Wirklichkeit erfahrbar macht durch ein freudvolles Spiel. Der Motor rauschte, unsere Köpfe rauchten. Mit Carl war man sofort im Reich der Kunst – seine Seminare waren ein permanentes Ereignis. Obwohl er uns dabei auch öfter sagte, dass Kunst sich an der Unwahrscheinlichkeit ihres Zustandekommens messen lässt, war es mit Carl jedenfalls nicht allzu unwahrscheinlich, einem Ereignis beizuwohnen.
Zwischendurch wollte er uns auch auf den Beruf vorbereiten:
„Wenn man Dramaturg werden will und keine Leporellotexte schreiben kann, ist man gleich in einer total schlechten Lage. Und wenn man schlechte Leporellotexte schreibt, ist das Theater in einer schlechten Lage.“ Also schrieben wir für jedes Seminar einen kurzen Text, den Carl dann zerlegte und uns exemplarisch vorführte, dass jeder Text scharf, stachelig, klar, vorausschauend, thesenhaft sein sollte, um das Theater auch in einem Ankündigungstext schon lebendig und streitbar zu machen. Denn Theater ist Handlung und Täuschung, Wirklichkeit und Schwindel zugleich und eben darum fähig, die Welt, die – nüchtern betrachtet – fremd ist, zu beschreiben.
Wir lernten Täuschungsdifferenzierungen mit dem Soziologen Erving Goffman, um jene Rahmen, die die Wirklichkeit definieren, am Theater zu exerzieren. „Habe ich Euch diese Geschichte schon erzählt? Ist eigentlich egal, ich erzähle sie auch gerne drei Mal, weil sie so toll ist“, begann er und erläuterte dann welt-zerstörerische Gefühle zu beschreiben, die aus kleinen Abweichungen von gesellschaftlichen Normen entstehen konnten. Er webte mit ständig heißer Nadel mit uns gemeinsam im Gespräch einen Baukasten verschiedenster Paradoxien und Transformationen, die er für das Theatermachen brauchte und die uns manchmal fragend, manchmal gehirnverrenkt, immer inspiriert zurückließen.
Als wir gegen die unsägliche Hochschulpolitik protestierte, dass Nicht-EU Bürger Studiengebühren zahlen sollten (mit dem Segen des neu aufgelegten sächsischen Hochschul“Freiheits“Gesetzes), sagte Carl dem entnervten Rektor, dass er doch froh sein konnte, solidarische und engagierte Studierende zu haben, die sich einbrachten.
Hatte ich Fragen, war Carl immer offen, hatte zwar nie Zeit, aber war dann plötzlich trotzdem da und hörte zu oder schaute sich eine Arbeit an oder vermittelte. Er war der erste Mensch, der sich wirklich unwahrscheinlich freute, dass ich nach meinem Dramaturgiestudium für ein Kunststudium angenommen worden war. Er gönnte mir diese weitere Reise von Herzen und ich lernte hier einmal mehr von ihm, die Zuversicht am Ungewissen.
Sein Denken und Sprechen fand in Spiralen statt, Spiralen mit Füßen, die uns alle weiter trugen.
Ich konnte mir damals im Studium nicht vorstellen, als Dramaturg zu arbeiten. Und auch wenn ich dies nicht anpeilte, war doch die Lust an diesem Beruf mit Carl so groß geworden, dass ich es, kaum dass es sich anbot, entgegen meiner Pläne tat. Bei meiner ersten Produktionsdramaturgie war ich sehr nervös. Um mich zu beruhigen, spielte ich ein bisschen Carl: Ich kam mit einem Rollkoffer, mit dem er immer direkt vom Bahnhof in unser Seminar gestolpert gekommen war, zur Konzeptionsprobe und hatte Kakao im Tetrapak bei mir. Und meine ersten Worte handelten von den Paradoxien im Stück, das wir probten. Lange konnte ich dieses Spiel nicht aufrechterhalten, dafür war mir klar, dass ich die Taktfrequenz von Carls Analysen nicht erreichen konnte. Aber es gab mir das Gefühl, eine Idee davon zu haben, wie ich selbst anfangen konnte. Anfangen, daran mitzuwirken, dass das Theater seine Grenzen sprengt, dass es sich abschafft und dadurch erst stattfindet und als im Reich der Kunst wirkend, etwas anrichten kann – oder zumindest es ausprobieren will, um dann lustvoll zu scheitern. Das versuche ich weiterhin.
Einmal während eines Seminars blätterte Carl fast 5 Minuten in einem Buch, ohne zu sprechen. Das war die längste Zeit, in der er während meines ganzen Studiums nicht sprach, nicht von einem ins andere kam, nicht voran und forttrieb im Denken. Der Regen draußen vor dem Fenster fiel plötzlich ganz laut. Tropf tropf tropf. Dann ein „ahhh, hier steht’s“ von Carl – und zack weiter und Schwindel und Schönheit des Scheins und Goffman Goff Goff und ein schelmisches Kichern und dann schnell zum Zug.
Moritz von Schurer
Gedanken zu Carl Hegemann
Mein Dramaturgiestudium fiel mit den Jahren 2011-14 exakt auf den Zeitraum, als Carl zusätzlich zu seiner hiesigen Professur wieder als Dramaturg am Hamburger Thalia-Theater arbeitete.
Die erste Begegnung mit ihm nach meiner Immatrikulation war dann gleich an Tag 1 im Raum 1.10. Theatergeschichte, Theater der Renaissance. Frau Stuber hatte diese Lehrveranstaltung gelesen und für uns Erstis auch Carl und Sandra Umathum als Begrüßungskommittee angekündigt - deren Zug kam nur nicht pünktlich. Mitten im schönsten „Ranreden ans Thema“, wie sie das immer nannte, klopfte es plötzlich an der Tür, Carl und Sandra traten herein, begrüßten uns, hielten sich aber kurz und höflich, um nicht weiter zu stören. Carl wünschte viel Erfolg bei diesem „ganz wichtigen Propädeutikum“ und verwies auf das dritte Semester im Jahr darauf, unser erstes gemeinsames Seminar. Unmittelbar nachdem die beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten, gab es den ersten trockenen Stubersatz (weitere schöne sollten folgen):
„Merken Sie sich den Zuspätkommenden; diese Figur wird Ihnen in der Theatergeschichte noch häufiger begegnen!“
Carl wohnte in Berlin und war auf die Deutsche Bahn und die Pünktlichkeit ihrer ICEs angewiesen - in beide Richtungen: Leipzig für die HMT, für das Thalia-Theater Hamburg. Für die Hansestadt kann ich nicht sprechen, aber für Leipzig hieß dieser vermutlich recht aufreibende Lebenswandel, dass die angekündigten Ankunftszeiten der DB nicht immer zwingend mit dem Curriculum der HMT in Einklang zu bringen waren. Für den gelegentlichen Fall, dass Carl wieder mal zu spät kommen musste, „erfand“ er das Impulsreferat in unseren Seminaren - zumindest hielt ich es für einen seiner diesbezüglichen Einfälle:
Man redete sich für das nächste Konvolut Schillerscher Ästhetischer Briefe um Kopf und Kragen, man „schwamm“ thematisch noch ein bisschen („Scheitern als Chance“, haha!), und wartete auf seine Ankunft, damit es mit seinen Worten dann endlich einrasten konnte. Denn nach seiner Ankunft stimmte die Temperatur, passten Setting und Rahmen (Der! Rahmen! - Das vermutlich wichtigste Wort seiner Lehrerschaft!), und er konnte instantan loslegen. Das hieß, er extemporierte, frei flottierend. Und keiner konnte so - ja, sexy! - extemporieren wie Carl! Und wie leicht ihm das immer fiel! Geistesblitze, und dann in diesem Dauerbeschuss mit anfänglicher Überforderung meinerseits die alles berichtigende Erinnerung an den Satz: „Wer etwas aus dem Ärmel schütteln will, muss vorher etwas reingetan haben!“
Seine Ärmel schienen immer übervoll.
Das alles geschah seinerseits nie ex cathedra, nie direktiv; es war immer eine Gemeinschaftsleistung mit ihm und unserer Gruppe; er konnte virtuos Schneisen ins intellektuelle Dickicht schlagen, mit ihm lichteten sich ganze Wälder.
Die leibliche Kopräsenz von Ensemble und Publikum, also das „Kleeblatt“ von Erika FischerLichte; der 15. Schillerbrief, das „fröhliche Reich des Spiels und des Scheins“; die Rahmenanalyse von Erving Goffman, natürliches vs. soziales/kulturelles/künstlerisches Framing - etc. pp.
Auf eine Zigarette mit Carl Hegemann in einem Satz:
Wenn das dann bisweilen an diesen Abendseminaren im Kopf doch so voll wurde, dass man in der Pause bloß schnell aus der 4.16 wollte, um mal eine zu rauchen, Carl aber auf dem langen Flur noch einen Gedanken zu teilen hatte („Tobias, warte doch kurz!“ - „Carl, lass mal gleich weiterreden bitte, ich will erstmal runter in den Innenhof, eine rauchen!“ - „Ja also, wenn du nur eine rauchen willst, dann kannst du das ja jetzt auch hier auf meinem Balkon, komm! Es ist doch so: was Hegel uns da nämlich eigentlich sagen will, ist ja…“), fand man sich flugs auf seinem sympathisch-chaotisch hergerichteten Eckbalkon wieder, Carl hatte sich bereits gleich zwei seiner roten Gauloises simultan angesteckt, reichte mir eine davon ungefragt, bevor ich mein eigenes Tabakdrehzeug überhaupt wieder verstauen konnte, danach redeten wir weiter, also er, pausenlos; ich liebe diesen Balkon mit seinem Taubenschutznetz im vierten Stock, und wenn ich am Dittrichring 21 vorbeikomme, blicke ich seit über zehn Jahren immer sehr glücklich dort hinauf.
In den Seminaren gab es oft sein anfänglich immer noch beruflich auf laut belassenes iPhone, das dann im Seminar auch mal losklingelte. Der Mann schien wirklich die gesamte deutschsprachige Theaterwelt persönlich zu kennen. „Ach, der Bierbichler… jetzt geht das aber nicht!“ Tom Tykwer, den er für ein Seminar hergeholt hatte - wir konnten seinen Film „Cloud Atlas“ in der Schaubühne Lindenfels in einem eigens angemieteten Kinosaal sehen. Wolfram Lotz, den er für ein Seminar gewinnen konnte, und Carl bestimmte dann kurzerhand vor allen Beteiligten, dass plötzlich ich Lotzens „Rede zum unmöglichen Theater“ vorzutragen hätte. Mit Betonung und Talent, bitte - der Autor sei schließlich anwesend. Danach wurde dann an Interessierte unserer Gruppe Gänseschmalz in kleinen Plastenäpfchen als touristisches Mitbringsel aus „Auerbachs Keller“ verteilt, in dem beide zuvor gespeist hatten.
Mein Leipzig … … …
Abendregie: Carl Georg Hegemann.
Und überhaupt dieser schlaue Zug, 2013 den frischemeritierten Hans-Thies Lehmann noch für ein Semester an die HMT zu holen - das fiel genau in den Zeitraum der Themenfindung für meine Abschlussarbeit. Jürgen Kruse inszenierte 2008 am Leipziger Centraltheater Molières „Don Juan“. Mich beeindruckte sein Einsatz von Musik auf der Szene, darüber wollte ich was machen. Petra Stuber hatte ich schon als Wunschbetreuerin auf meiner Seite, aber ich hatte doch auch sehr auf Carl als Zweitkorrektor spekuliert (immerhin hatte er mir als Insider im Vorfeld jede Menge KruseAnekdoten gesteckt, die gehören aber nicht hierher, die bleiben bei mir).
Carl lehnte meine Bitte danach auch freundlich, aber bestimmt ab: „Du weißt doch, dass das jetzt nicht mehr geht!“ Die Befangenheit, zu nah, zu privat - ich hatte geschluckt und verstanden. Ehrenmann!
Und dann stand eine Woche später - ungefragt - Hans-Thies Lehmann vor mir, bekundete größtes Interesse und wurde mein Zweitkorrektor. Man darf auch mal Glück haben…
Getroffen hatte ich Carl während meines Studiums und auch danach immer mal wieder in Bayreuth. Dort war ich später Stipendiat, 2013. Nach dem Ende von Marthalers „Tristan und Isolde“ lief ich an ihm vorbei, verheult, verwirrt, noch immer nicht ganz zurück auf dem Planeten Erde. Er rief vor dem Festspielhaus nach mir, ich ging auf ihn zu, stammelte „Carl, ach, du auch hier, ich… ich muss jetzt erstmal noch ein bisschen weiterweinen, bitte.“ Er lächelte nur, mild und leise.
Das letzte Mal habe ich Carl im Dezember 2019 vor der Volksbühne getroffen. Pucher inszenierte dort Ronald M. Schernikaus „legende“. Bei dieser letzten gemeinsamen Zigarette mit ihm war der Wortanteil etwa gleich verteilt; ich hatte ausreichend Gelegenheit, mich als Schernikau-Fanboy zu outen, der wirklich alles von ihm gelesen hatte, bis auf jene dauervergriffene „legende“, die erst kurz zuvor vom umtriebigen Verleger Sundermeier neu herausgegeben worden war.
Apropos Legende: ein nicht ganz unbestätigter kleiner Mythos will es, dass sich der bereits schwerkranke Schernikau auch eine Grabstätte am Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin erhoffte. Man wies ihn ab mit den Worten, dass das einzige Grab, das derzeit frei ist, für Heiner Müller reserviert sei. In dessen Gesellschaft befindet sich nun - fast dreißig Jahre später - auch Carl.
Ich kann nicht anders, als Carls Tod rückblickend als einen unaufhaltsamen, unvermeidlichen Vorgang, eben als natural framework einzuordnen. Da ist kein neuerlicher Umbau, kein Szenenwechsel, es wird hier auch nicht die 222. Folge von „Dallas“ geben. Sein Tod ist kein Theater mehr, es ist der „Einbruch des Realen“, wie Hans-Thies Lehmann es bezeichnete.
Wie hatten wir das noch gleich anfänglich?
Ach ja: „Merken Sie sich den Zuspätkommenden!“
Ich erlaube mir zu ergänzen: Vergessen wir aber auch nie denjenigen, der eigentlich ein bisschen zu früh die Party verlassen hat!
Mild und leise, wie er lächelt…
Danke für so vieles und weiteres und überhaupt, bester Carl!
In Liebe, Tobias Rentzsch
Erinnerung an Carl Hegemann
Zum ersten Mal begegnet ist mir Carl Hegemann während der mündlichen Aufnahmeprüfung für den Bachelor-Dramaturgie-Studiengang, für den ich mich beworben hatte. Ich brachte viel Leidenschaft und Interesse für das Theater und die Kunst an sich mit, jedoch wenig Wissen über konkrete Akteur:innen, geschweige denn Theorien. Ich glaube, die Zeit der Fragerunde war schon abgelaufen, da meldete sich Carl Hegemann zu Wort und wollte von mir wissen, wie ich zu René Pollesch stünde. René Pollesch dachte ich, wer war das noch mal… In meinem Kopf schwirrten diverse René(e)s an mir vorbei, erst kürzlich war da doch ein:e auf einer Party, dann noch ein Puppenspieler, über dessen Gastspiel ich gehört hatte. René(e) von der Party konnte nicht gemeint sein, also entschied ich mich für den Puppenspieler, mit großem Fragezeichen. Ich finde, es ist Carl Hegemann hoch anzurechnen, dass er lächeln konnte. Und aufgenommen wurde ich glücklicherweise trotzdem.
Selbstverständlich erinnere ich mich gut und gerne an die lebhaften Monologe, denen wir Studierende im Fach Inszenierungs- und Aufführungsanalyse zuhören durften. Ich habe mir auch das Plädoyer für die unglückliche Liebe gekauft und gerne gelesen.
Gut und gerne erinnere ich mich auch an meinen Besuch bei Carl Hegemann in seiner Wohnung in Berlin. Grund hierfür war meine Bewerbung für ein Studienstipendium bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er hatte sich bereit erklärt, mich mit einem Empfehlungsschreiben zu unterstützen. Geschrieben war es längst, doch er hatte vergessen, zu unterschreiben. Also machte ich mich auf den Weg nach Berlin, mithilfe meiner ortskundigen Freundin fand ich schließlich auch zu seinem Zuhause. Nachdem er sich an der Tür erkundigt hatte, worum es noch mal ginge, fanden wir uns in seiner Küche wieder, wo wir in der nächsten Stunde (oder waren es zwei? drei?) abenteuerlichen Geschichten über seine Theatererfahrungen lauschten und nebenbei sehr viel passiv rauchten. Als er am Ende die Unterschrift unter das Dokument setzte, sagte er zu mir: „Dafür bist du extra hierhergekommen? Die hättest du doch einfach fälschen können.“
Das Stipendium habe ich übrigens erhalten und es hat mich auf finanziellen sicheren Pfaden bis zum Ende des Masterstudiums geleitet. Erst vor wenigen Monaten kam mir die Idee, Carl Hegemann dafür rückblickend nochmals zu danken. Ich war mich nicht sicher, über welche Adresse er zu erreichen ist, und habe an irgendeine Mailadresse geschrieben. Ich hoffe, das Dankeschön hat ihn noch erreicht.
Lilli Hallmann, ehem. Dramaturgie-Studentin (BA)
Theaterschlaf
Als wir 2005 in Leipzig zu studieren anfingen, waren wir alle noch ganz grün hinter den Ohren. Wie alle Kinder dieser Welt mit Anfang zwanzig hatten wir die Weisheit mit Löffeln gefressen, wussten, wo der Hase langläuft – und hatten doch von nichts eine Ahnung, vor allem nicht vom Theater.
Und dann kam Carl. Jener zottelige, nuschelnde Professor, dessen Redefluss zu folgen uns an unsere Grenzen brachte. Der uns direkt das "Du" anbot – im Alltag der altehrwürdigen Theaterhochschule ein Novum, ein willkommenes! Der echte Theatermensch, der jahrzehntelang und immer noch an den großartigsten Theatern arbeitete und mit den großartigsten Regisseuren. Schlingensief! Castorf! Pollesch! Carl brachte den glitzernden Theaterstaub direkt mit von der Volksbühne nach Leipzig. Und uns, die 15 Dramaturgiestudierenden, brachte er irgendwie auch zusammen. Gemeinsam durften wir erleben – hautnah –, dass Unterschiede nicht trennen, sondern Welten öffnen. Während Carl uns mit Kierkegaard und Kant bald auf Philosophiereise nahm, ging es mit Petra Stuber zu Erika Fischer-Lichte in die Winkel der Theaterwissenschaft und mit Barbara Büscher auf Stippvisite zu Marshall McLuhan. Mir schwirrten bald Kopf und Körper vor all der intellektuellen Wucht, die sich hier versammelte – nicht nur vorn im Raum, sondern auch unter den Kommiliton:innen, die so eifrig in die Diskurse einstiegen und jedes Fremdwort rückwärts buchstabieren konnten. Ich übertreibe nur leicht. Nicht zuletzt durch die Gleichzeitigkeit unserer so unterschiedlichen Lehrenden lernten wir, dass alles seinen Platz hat. Auf dieser Welt – und in der Kunst sowieso. Das Werk ist immer größer als der Autor.
Das wahrscheinlich Wichtigste aber brachte Carl mir bei, als er – war es am Wiener Burgtheater oder an der Volksbühne Berlin, auf jeden Fall aber eine wahrscheinlich epische Aufführung, vermutlich Castorf, vier Stunden oder mehr – in aller Seelenruhe einschlief und leise schnarchte. War es ihm peinlich? Kein Stück! Theaterschlaf sei der beste Schlaf, den es gäbe. Seitdem habe ich viele Stunden herrlichsten Schlaf in dunklen Theatersälen verbracht - aber nie wieder mit schlechtem Gewissen.
Christine Böhm
Exkursion nach Berlin. Tagsüber Gespräche im Schwarzen Meese-Foyer der Volksbühne. Ausstellungsbesuche. Diskussionen. Auch mal etwas länger ausschlafen, weil es nachts doch ziemlich spät wurde. Abends Theater: BE, DT, HAU … Sonntagabend dann „Die Leiden des jungen Werther“ am Maxim Gorki Theater. Auch hier ist Carl, der zwischendurch auch ganz woanders war, mit dabei. Er sitzt hinter mir, neben ihm seine Tochter Helene (deren schulischen An- und vor allem Abwesenheiten erstaunlich oft side quests in unseren Seminaren mit Carl waren). Helene in gewisser Dringlichkeit: „Papa, es ist Sonntag, wir haben fast keine frischen Klamotten mehr. Wir müssen Wäsche waschen.“ Carl: „Ja, ja, wir schmeißen nach der Vorstellung noch schnell eine Maschine an und werfen dann alles in den Trockner.“ Helene, nach einer kurzen, trockenen Pause: „Wir haben keinen Trockner.“ Carl: „Ah ja.“ Schweigen. Der Saal wird dunkel. Vorstellungsbeginn.
Auch das war Carl: Ein Träumer, ein Fantast, ein Unrealist.
Lars Gebhardt